Der UN

Der Un ist es, der die Pein in unser Leben bringt. Wo sind die Zeiten hin, da Hold und Wirsch ihr Wesen trieben? Der Unhold ist geblieben. Er treibt sein Unwesen. Der Hold aber ist längst verblichen. Seht euch um! Wo trefft ihr einen Hold? Nur der Bold ist noch da und dort zu sehen, sein unangenehmer Bruder.
Könnt ihr euch denken, dass es Zeiten gegeben hat, wo es stets erhört war, dass jemandem ein Gemach geschah? Ihr werdet nur von unerhörter Unbill hören, Ungemach wird euch zustoßen und in gemeinen Unflat werdet ihr geraten. Irgendwo aber müssten es doch trotz alledem einen flätigen Menschen geben, einen wirschen Kerl, bei dem es einem sehr geheurer ist und bei dem heimlich noch nicht verstohlen heißt, sondern das wahre Gegenteil von heimlich ist.

Wo ist der Mann zu finden, dieses freundliche Getüm, dieser beholfene Mensch von geschlachteten Manieren? Lasst uns, wenn ihr ihn wisst, ohne Übereilung und mit Gestüm zu ihm gehen. Es passt nicht zu ihm, dass wir ihm mit unbändiger Erwartung entgegentreten. Bündig, aber unverschämt wollen wir sein. Denn Verschämtheit hieße bei uns, die wir das Jünglingsalter verlassen haben, und die wir nicht Unrat zu wittern brauchen, die wir zu einem rätlichen Mensch gehen, der nur freundliches Geziefer um sich hat – Verschämtheit heiße bei uns Unaufrichtigkeit.

Es soll uns ja über die gefährlichen Untiefen unserer Ratlosigkeit hinwegführen, er soll uns sagen, warum es geschehen konnte, dass es von seinen Tugenden nur noch die Verneinungen gibt, und warum die Deutschen der letzten hundert Jahre von vielen sinnigen Dingen nur noch die unförmige Kehrseite kennen, den Unflat, den Unhold, das Ungewitter, den Unrat und das Ungeheuer? Wo ist das Geheuer geblieben, dieses schöne Tier?

Der Un ist ein Übel, das in unserer Sprache sitzt. Die Verantwortlichen sollten es so aufmerksam betrachten wie den Krebs. Werdet nicht von Unwillen erfasst, ihr Akademiker, ihr Unsterblichen, wenn ich euch an eure Pflicht mahne, die deutsche Sprache von der Vergiftung durch die Verneinung zu erretten.

Es ist soweit gekommen, dass ich befürchte, einer von euch möchte diesen Aufsatz nicht unübel finden. Dabei könnte man von ihm nur sagen, dass er nicht übel sei. Dies ist seine einzige Rechtfertigung. Mit Fug dürftet ihr sonst sagen, dass ich nur Unfug treibe. Es liegt bei euch, aus Unsinn Sinn zu machen.

Nichts für ungut!

Aus: Kiaulehn, Walter. 1958 . Lesebuch für Lächler. Berlin: Rowohlt.
Mit Dank an Isabelle Drexler!


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Kommentare

Eine Antwort zu „Der UN“

  1. Reinhard

    UNsinniges
    Blog an Steffen 03042010:
    Der Un hat mich schwer beeindruckt!
    Habe heute Nachts beschlossen, die sonst üblichen Schäfchen mit
    Unwörtern auszutauschen. Ich bin begeistert. Allein schon die
    überraschende Vielfalt und Sprunghöhe. Bin auch flott eingeschlafen.
    Hatte dann aber einen quälenden Alptraum in Erfüllung des letzten
    Satzes: aus Unsinn Sinn zu machen!
    Erster Versuch:
    Der Sinn als Unwort ergibt Unsinn. Unsinn als Unwort ergibt Un-Unsinn
    ergibt Sinn. Das Unwort ist damit zugleich Sinn wie auch Unsinn. Ich bin
    verblüfft. Und das im wenn auch unruhigen Tiefschlaf. Mein Verstand
    weigert sich hartleibig, dies anzuerkennen und verordnet mir eine
    unverzügliche Gegenprobe:
    Zweiter Versuch:
    Der Sinn als Unsinn ist ein Unwort. Der Unsinn als Sinn ist auch ein
    Unwort, wenn auch nur dort wo angebracht sinnvoll. Ich bin tief
    bestürzt. Mein Alptraum bekommt eine ungeahnte, ja geradezu
    existenzbedrohende, neue Dimension. Mein ganzes, sinnvolles Leben
    schlagartig zugleich völlig unsinnig? All mein ergebnisorientiertes Tun
    unsinnige Makulatur? Welchen Sinn hat noch meine Zukunft, wenn sie
    unsinnig ist? Ich beschloss wagemutig und zugleich voller nagender
    Zweifel einen letzten Versuch:
    Der Unsinn wird zum Sinn, wenn er kein Unwort ist. Der Sinn wird zum
    Unsinn, wenn er zum Unwort wird, macht dann aber keine Sinn mehr und das
    Unwort aus Unsinn ergibt schlicht keinen Sinn.
    Na also, geht doch.
    In tiefer Erleichterung stürze ich mich (un)endlich in die Untiefen der
    REM-Phase.
    Herzliche Grüße Reinhard