Vom Diskurs der Verordnung – Chronik der Coronatage (20): Dienstag, 07.04.2020

Die letzten Nächte wildwirr geträumt. Das Ich in irgendwelchen Rettungseinsätzen, bei Schutzmaßnahmen, auf der Suche nach einer neuen Unterkunft, warum auch immer. Nachts trainieren wir fiktiv-mögliche Verhaltensweisen bei einer möglichen Eskalation der lebenswirklichen Grundsituation – probieren Überlebenslösungen.

Sie aufzuschreiben, dazu bin ich leider nicht gekommen.

Der Tag ist aus dem Rhythmus, aber die alltäglichen Dinge gehen weiter. Draußen knospen hellgrün die Bäume, die Kirsche im Garten (und noch ein Baum, von dem ich bezeichnenderweise den Namen nicht weiß) steht bereits massig von kleinen weißen Pelzen besetzt.

Generell träumen viele jetzt schlecht. Freunde und Verwandte bestätigen dies. Kollateralschaden des Lockdown. Auch die Kinder, so gefasst sie alles nehmen, suchen verstärkt Körperkontakt.

Die psychosomatische Fieberkurve steigt.

Erkennbar auch an den zunehmenden Diskussionen über das Ausschleichen aus den Maßnahmen, die Rückführung in die Normalität. Nur: in welche? Seuchen sind ja »historisch der Normalzustand«, so Karl-Heinz Leven vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Erlangen-Nürnberg. Geschichtsvergessenheit war es also auch, wobei wir nun ertappt wurden.

Die Stadt Offenbach jetzt jedenfalls bei 42 Fällen, Frankfurt bei 643. , also der Exponentialfunktion, scheint zu funktionieren, aber weiter steigen werden die Zahlen ja dennoch. Dafür nehmen wir andere, noch absolut unbezifferbare Langzeitfolgen in Kauf; die Verschärfung dessen, was schon da ist: soziale und ökonomische Ungleichheiten zwischen Leuten wie Ländern, persönliche wie weltwirtschaftliche Depressionen, Gewalteskalationen wie Im-Stich-Lassereien. Ich versuche, den Corona-Nachrichtenkonsum herunterzufahren, bin der täglichen Ungeduld, der Ansteckung vom Echtzeitvirus eigentlich müde, aber es will nicht ganz gelingen.

Da hat es etwas unfreiwillig Poetisches, dass in England 5G-Funkmasten in Brand gesetzt wurden, im Glauben, die Verbreitung des Virus werde von den Telemedien auf den neuen Funkwellen reitend beschleunigt.

Eine Zwangsstörung also, das scheint unser Krankheitsbild als Gesellschaft.

Medien müssen berichten, sonst delegitimieren sie sich; wir lesen, um weiter »auf dem Laufenden«, auf aktuellstem Stand der Ver-Ordnung zu sein, uns auch innerlich zu verorten. Und kreisen so stets um nur wenige Variationen desselben Wissensstands, während anderes weitgehend unerzählt bleibt – und in der Folge auch ungetan:

Bis heute wurde trotz Koalitionsbeschluss kein einziges Kind aus den griechischen Geflüchteten-Camps ausgeflogen.

Möglichst schnell wieder zurück auf Los bei uns hingegen der Wunsch: Österreich ist dazu gestern mit einem Mehrstufenplan vorgeprescht, hat damit aber zugleich auch einen Vorschein gegeben, was alles wie lange noch nicht wieder gehen wird: sämtliche »Veranstaltungen« z.B. bis Ende Juni. Das Schlimmste steht ja noch aus, wir befinden uns immer noch in der »Hammer«-Phase, bevor überhaupt so etwas wie ein »Tanz« beginnen kann.

Wie das Virus auch unsere Sprache hinterrücks umprogrammiert.

Was wohl Heimwerker, Baumärkte und die Tanzszene von dieser verbalen Kontaminierung denken?

Wie Gesellschaftskritik und Opposition leisten, wie zum Protest versammeln in einer Zeit, in der die Sprache wieder männlich-kraftvoll den Gehorsam einfordert, in der selbsternannte Blockwärter sich um den Titel pater patriae zu bewerben scheinen, in der Demonstrationen wie die Seebrücke-Demo gegen die Geflüchtetenpolitik gestern in FFM mit den aktuellen Infektionsschutzgesetzen im Rücken aufgelöst werden, obwohl die Demonstranten sich bemüht haben, den Mindestabstand einzuhalten und anstatt eines Massehaufens eine lose Menschenkette bildeten?

Und auch wenn sich Mama Merkel vorneweg um sachliche Nüchternheit bemüht: Wieder sind es vor allem Männer, die uns das Richtige und Notwendige erklären und sich als Macher inszenieren; der Arzt verordnet die Kur und schreibt das Rezept. Die Paternalisierung der Diskurse in der Krise spiegelt zwar den verständlichen Wunsch, alles möglichst schnell in den Griff zu bekommen und auf den Begriff zu bringen, beginnt aber selbst zunehmend übergriffig, wenn nicht längst schon dafür genutzt zu werden, von gefühlten Mehrheiten »angesagte« Aktionen wie »immunisierende« Grenzschließungen und von sicherheitsfanatischen Politikern herbeigewünschte Tools wie Bewegungs-Trackings durchzusetzen.

Was machbar ist, wird gemacht.

Gegen all dies braucht es die Kontinuität von Protest, eben besser noch: Neue Protestformen, soll Demokratie nicht Schaden nehmen. Impulse dazu könnten (und werden gewiss) aus den performing arts, der Kunst insgesamt kommen. Doch deren aktuelle ökonomische Misere scheint aktuell weniger systemrelevant: wenn das Hilfsprogramm von Bund und Ländern zwar beim Ersatz laufender Kosten, nicht aber bei ausfallenden Auftritten, Ausstellungen etc. einspringt, wovon diese Szene in erster Linie lebt.

Die Triage, jene gefürchtete Wahl, wen man bei überfüllten Krankenhausbetten dem Sterben überlassen soll und wen nicht, sie ist auf andere Weise, den Ereignissen stets nur hinterherrennend, anhand von Fokussierungen auf ökonomische Brennpunkte oder anderen verweigerte Hilfe bereits im Vollzug. Deutlich wird das aber erst werden, wenn verzögert die Pleitewelle einsetzt.

Vielsagend übrigens auch das Wort von den repatriation flights. Die Rückholaktionen im »Ausland« Gestrandeter gehen auf den EU Civil Protection Mechanism zurück – »European solidarity at its best« steht auf dessen Infoseite zu lesen. »Die größte Rückholaktion der deutschen Geschichte«, wirbt der Corona-Podcast der Bundesregierung. Über 160.000 Menschen wurden bisher zurückgeholt.

Und ich schreibe es hier nochmal:

Bis heute wurde trotz Koalitionsbeschluss kein einziges Kind aus den griechischen Geflüchteten-Camps ausgeflogen.

Und die Debatte um Corona-Bonds nährt weiter den Verdacht, man möchte sich nun lieber noch tiefer in sein nationales Schneckenhaus zurückziehen dürfen. Die eigene Wohlstands- und Wohlfühlzone nochmals absichern gegen die der Überschuldeten, Unterprivilegierten, Ausgebeuteten, Armen. Hatten wir diese Kontaktzonen auch vor Corona schon möglichst zu minimieren versucht, hat uns die Krise endlich mit passenden Ausreden dafür ausgestattet. Die Staatsgrenze als Firewall – und dahinter sind wir wieder wer.

Den Nationalpopulisten mögen derart aktuell ihre Alternativargumente genommen sein wie die Butter vom Brot. Für die Nachkrisenzeit dürfte unser jetziges Sprechen und Handeln aber ein gefundenes Fressen sein, sich wieder zu mästen. Oder schlimmer: sich ins gemachte Nest zu setzen.
»Dies ist eine historische Aufgabe – und sie ist nur gemeinsam zu bewältigen«, hatte die Kanzlerin in ihrer Rede am 18.03. noch gesagt. »Alle zählen.«

Hoffentlich, die nächste Zeit wird der Lackmustest sein, doch nicht nur ein weiterer wildwirrer Traum von der Zukunft.


Beitrag veröffentlicht

in